Veröffentlicht in caucaz.com am 04/03/09
Dschuta ist ein kleines Dorf von etwa dreißig Familien. Es befindet sich im Herzen der östlichen Massive des georgischen Großen Kaukasus, deren höchste Erhebung mit 5033 Metern der Berg Kasbek darstellt. Sieben Kilometer entfernt von der Grenze zu Inguschetien in der Russischen Föderation liegt Dschuta am Nordhang der Bergkette. Mit einer Höhe von 2200 Metern stellt es knapp hinter Uschguli im westgeorgischen Swanetien den am zweithöchsten bewohnten Ort Europas dar – falls hier überhaupt noch Europa sein sollte. Über einem tiefen Tal gelegen, befindet sich Dschuta am äußersten Rand der georgischen historischen Regionen von Chewi und Chewsuretien. Oberhalb des Dorfes wohnt keine Menschenseele mehr: halb christliche, halb heidnische Heiligtümer aus trockenem Stein kann man dort als einzige Spuren von Zivilisation finden.
Die Chewsuren zwischen Mythos und Realität
Die Chewsuren, die aus insgesamt etwa 700 Familien bestehen, sind eine besondere Gruppe unter den Georgiern. Sie werden von der nationalen Romantik als zeitlose Wächter der georgischen Identität und des Glaubens idealisiert, imaginiert als stolze Krieger in Kreuzzügler-Kettenhemden, die das orthodoxe Kreuz hochhalten und rastlos muslimische Tschetschenen, Perser oder Dagestaner bekämpfen. Als Inhaber ungestorbener heidnischer Traditionen hätten sie die Seele der Urgeorgier sogar durch die Zeiten des Christentums hindurch erhalten.
Wascha Paschawela, ein georgischer Dichter aus dem 19. Jahrhundert, der selbst aus dem an Chewsuretien grenzenden Gebiet Pschawi stammte, zelebrierte ihre Tapferkeit und ihre Liebe zur Natur. Doch als der „nationale Kommunismus“ der 1950er Jahre den Mythos des reinen Chewsuren für ein Publikum in Tbilissi ausgrub, war schon die Hälfte Chewsuretiens entvölkert und seine Einwohner in das Flachland von Kachetien, Kwemo Kartli oder nach Tbilissi deportiert worden. Die massive Industrialisierung brauchte Arbeitskräfte für die Fabriken und Kolchosen, die damals aus dem Nichts in der Steppe erbaut wurden und heutzutage fast vollständig verfallen sind. Daneben war das sowjetische Regime ständig auf Schwierigkeiten gestoßen, sich die turbulenten Chewsuren gefügig zu machen, die vorher niemals äußeren Herrschern ganz unterworfen gewesen waren. Die Machthaber schienen kein Problem im Gegensatz zwischen politischer Aktion und Propaganda zu sehen: das Dorf Schatili, ein mittelalterlicher Aul (nord-kaukasisches befestigtes Dorf), wurde durch Filme zur Ikone der Bergregionen Georgiens, kurz nachdem man seine Einwohner von dort vertrieben hatte.
Geographisch in Chewi gelegen, blieb Dschuta von der Vertreibung seiner Bevölkerung verschont. Allerdings ist es kein Zufall, dass Jago, ein Mann aus dem Dorf, der in Kasbegi zur Schule ging, in Tbilissi studierte und jetzt versucht, den Tourismus in Dschuta zu entwickeln, eine Chewsurin geheiratet hat, die aus Südkachetien kommt. Dorthin hatte man ihre Familie in den 50er Jahren deportiert. Solche Fälle sind weit verbreitet: da Chewsuren meist Chewsurinnen heiraten, versuchen deportierte Familien, die Töchter mit Männern zu vermählen, die noch in Chewsuretien verwurzelt sind.
Harte Lebensbedingungen
Diejenigen, die in den Bergen geblieben waren, hatten nie ein einfaches Leben geführt. Jagos Großvater, ein Schafhirte, starb in einer Lawine. Jagos Kindheit verlief mit wenigen Kontakten zur Außenwelt, ohne Strom, in einem Haus wo Menschen und Tiere gemeinsam lebten. Dschutas Architektur ist einfach und die Wände von Jagos Haus sind heute noch teilweise mit getrockneten Kuhfladen bedeckt, der als Isolierung dient.
Stromlieferungen bezieht Dschuta erst seit Herbst 2007. Eine Gaspipeline wurde zu Sowjetzeiten gebaut, die die althergebrachte Isolation des Dorfes beendete. Daneben ist der Ort einer der kältesten in Georgien. Es kommt vor, dass man hier bis zu acht Monate im Jahr durch Schneemassen von der Außenwelt abgeschnitten ist. Weil bisher kein Regierungsprogramm plant, die Strassen zu reparieren und zu sichern, scheint es, dass diese Situation auch in Zukunft so bestehen bleibt.
Nur Kartoffeln lassen sich hier ernten, denn Dschuta liegt zu hoch für den Anbau anderer Gewächse. Die Einwohner besitzen vor allem Kühe und produzieren Butter und Käse. Andere Produkte werden von niedriger gelegenen Gebieten bezogen. In der Sowjetzeit fuhr man öfters nach Wladikawkas in Nordossetien, das nur etwa 60km entfernt liegt. Heute ist die russisch-georgische Grenze geschlossen, die Güter müssen daher erst vom mehr als 180 Kilometer entfernten Tbilissi nach Kasbegi gebracht werden, und dann nach Dschuta.
Die meisten Älteren im Dorf sind Hirten gewesen, erst „individuelle“ in ihrer Jugend, später „kollektive“. Als man die Schafherden zu Sowjetzeit kollektivierte, mussten Gruppen von Hirten Hunderte Kilometer mit mehreren Hunderttausend Tieren abwandern. Lagasa, Jagos Vater, begleitete diese riesigen Herden von Chewsuretien bis zum Kaspischen Meer in Dagestan.
Mit einem Fuß in der Tradition
Die Berge sind hier ein Synonym für harte Bedingungen. Zugleich haben sie aber auch länger als anderswo altüberlieferte Traditionen bewahrt. In Dschuta wird behauptet, dass die Stammeskleidung noch vor 30 Jahren getragen wurde. Bis in die Gegenwart hat sich, trotz dem Druck der orthodoxen Kirche in der georgischen Gesellschaft, der sonderbare Synkretismus der Chewsuren erhalten. Dieser steht übrigens in einem erstaunlichen Kontrast zu jenem Bild, das in den nationalen Vorstellungen die Chewsuren als verbissene Verteidiger des Christentums darstellt. Eigentlich existieren in Chewsuretien kein Klerus und keine Kirche, sondern Heiligtümer, wo gemischt Heiligen-, Kreuz- und Ahnenkult sowie animistische Rituale durchgeführt werden.
Heute noch versammeln sich die Männer in Chewsuretien für religiöse Feste an einem heiligen Ort außerhalb des Dorfes, oft in einem von Steinen umringten Raum, manchmal in einer Hütte. Frauen dürfen diesen Raum nicht betreten, denn durch sie würde der Ort „unrein“. Sie feiern ihrerseits manchmal in der Dorfschule oder in einem anderen Gemeinschafts-Raum. Im Heiligtum sitzt der Dorfälteste dem Kult vor. Seine Aufgabe ist, Gebete in Form von Trinksprüchen aufzusagen.
Bis zur Sowjetzeit haben die Gemeinden ohne feste Hierarchie gelebt. Der Chewisberi, der Stammesälteste, saß dem Kult und der Kriegsführung vor. Dieser Status hat sich bis heute beim Ritual erhalten. Nach dem religiösen Dienst wird ein Schaf, unter manchen Bedingungen auch ein Rind geopfert. Dann wird zusammen gefeiert; das geschlachtete Tier gegessen, selbst gemachter Schnaps oder Bier getrunken. Bei jedem Fest sind zwei Familien für die Organisation und die Versorgung mit Lebensmitteln zuständig. Das finanzielle Gewicht des Fests fällt also jedes Jahr auf andere Familien, so dass jede genug Zeit hat, für das nächste von ihr organisierte Fest zu sparen.
Der orthodoxe Klerus aus anderen Regionen Georgiens sieht diese in Chewsuretien überlebenden heidnischen Traditionen nicht gern. Besonders in der Nachbarregion Chewi, die eine spezifische orthodoxe Identität kultiviert: Ilja II, der Patriarch der georgischen orthodoxen Kirche, stammt aus dem Dorf Sno, das weniger als 15km von Dschuta entfernt ist. Orthodoxe Priester versuchen in Chewsuretien, wie im benachbarten Berggebiet Tuschetien „Entheidnisierungs-Kampagnen“ durchzuführen. Sie besetzen Orte wie den Aul Schatili, die von der nationalen Mythologie verehrt werden. Jedoch scheinen sie bis jetzt wenig Anklang unter den Berggemeinschaften gefunden zu haben.
Moderne Aspekte
Heute wohnen viele Familien aus Dschuta in Tbilissi, vor allem in den Vororten der Hauptstadt. Sie verbringen dort die schlechte Saison und kehren am Ende des Frühlings bis zur Mitte des Herbstes nach Dschuta zurück. Einige aber verbringen hier das ganze Jahr und horten vor dem ersten Schnee Mehl, Salz und Zucker, um die 6 bis 8 Monate Isolation durchhalten zu können. Nach der Eisschmelze und kurz vor dem Winter sind es riesige Wagenkolonnen, die aus Kasbegi, dem Hauptort von Chewi, und sogar aus Tbilissi nach Dschuta fahren, um die Einwohner zu versorgen. Zum Transport benutzt man bis zum Eingang des Dorfes Minibusse, die trotz des extrem schlechten Zustands der Strasse hochfahren können, und sowjetische Jeeps der Marke „Niwa“. Für die unbefahrbare Strecke im Dorf muss man die Waren dann auf Eselrücken umladen.
Wegen der nahen Grenze zur russischen Föderation wurde Chewsuretien in den 1990er Jahren stark militarisiert. Grenzen zu Tschetschenien in Schatili, zu Inguschetien in Dschuta: Wegen der nord-kaukasischen Konflikte wurde Chewsuretien fast gelähmt. Bis 2005 brauchte man eine Erlaubnis des Verteidigungsministeriums, um dorthin fahren zu können. Die Situation hatte sich nach dem russischen Sieg in Tschetschenien gelockert. Doch der Krieg mit Russland im August 2008, obwohl er Chewsuretien nicht direkt betraf, hat gezeigt, dass keine Grenze in Georgien für ganz sicher gehalten werden kann. Jetzt herrscht wieder Spannung an der russischen Grenze, die Touristen sind verschwunden, ebenso die Trucks mit russischen, belorussischen und ukrainischen Kennzeichen. Die Entwicklung Chewsuretiens ist heute mehr denn je von den Verhältnissen zwischen den beiden Ländern und von der Entwicklung der Süd-Ossetien-Frage abhängig.
Jedoch stellt die Grenze auch eine wertvolle Ressource für Chewsuretien dar, denn die meisten jungen Einheimischen arbeiten als Grenzposten. Die Überlegung des Verteidigungsministeriums, keine Einheimischen mehr als Grenzposten anzustellen, um lokale Korruption zu vermeiden, hatte viele Ängste in der Region hervorgerufen. Solange eine solche Entscheidung von Tbilissi nicht getroffen ist, stellt die Armee jedoch als Arbeitsgeber, aber auch mit ihren modernen Wagen und dem notwendigen Equipment den besten Partner für die Einwohner dar, um die Strassen von Lawinen zu räumen, einen feststeckenden Traktor zu befreien oder einen Nachbarn ins nächste Dorf zu fahren.
Der Einstieg dieser abgeschiedenen Region in die Modernisierung des 21. Jahrhunderts geht aber manchmal über unerwartete Wege. Auf der nordkaukasischen Seite Hoch-Chewsuretiens, in der Region, die in den 1950ern entvölkert wurde, und wohin nur manche Familien Ende der 1970er zurückgekehrt sind, gibt es keinen Empfang für Mobiltelefone. Im niederen Chewsuretien dagegen, auf der Bergseite, die in Richtung Tbilissi zeigt, schreitet die technische Zentralisierung langsam voran. Sendemäste wurden aufgestellt. Trotzdem hat Schota Arabuli, der in Korscha in Nieder-Chewsuretien wohnt, einen seiner Söhne in die Internatsschule von Schatili geschickt, die nur von Juni bis Oktober, und nur mit Vierradantrieb mit einer Fahrtzeit von 3 bis 4 Stunden erreichbar ist - weil Schatili, am äußersten Ende von Georgien, Internet per Satellit empfängt!
Bis zum August-Krieg kamen jedes Jahr immer mehr Touristen nach Chewsuretien. Wenn ab jetzt der Frieden erhalten wird, sehen die Chancen gut aus, dass dieser Trend noch zunimmt. Er würde andere Perspektiven für diese weit abgelegene Region in Georgien eröffnen.