dimanche 1 juin 2008

Artikel erschienen in caucaz.com am 19/11/2007
Von Nicolas LANDRU in Leipzig, übersetzt von Fiona GUTSCH und Gebhard REUL


© Nicolas Landru, Demonstrationen in Tbilisi

Am 2. November versammelte ein Bündnis von Oppositionskräften die größte Zahl von Demonstranten seit der Rosenrevolution von 2003 vor dem Parlament der Hauptstadt. Ziel war es, die Proteste solange fortzusetzen, bis die Regierung auf die Forderungen eingeht. Diese große Demonstration, die bereits Anfang Oktober angekündigt wurde und die von den Veranstaltern nicht zufällig an jene Revolution angelehnt wurde, aus der die derzeitige Regierung ihre Legitimation bezieht, dauerte auch noch fünf Tage später an, auch wenn die Zahl der Teilnehmer leicht abgenommen hat. Nachdem es zu einer Konfrontation zwischen den Sicherheitskräften und den Demonstranten gekommen war, wurde die Demonstration am Morgen des 7. November von Polizeikräften mit Wasserwerfern und Tränengas aufgelöst. In den folgenden Stunden flammten die Proteste an anderen Stellen in Tbilissi wieder auf.

Die größte Demonstration seit der Revolution

Die Regierung beziffert die Zahl derjenigen, die dem Aufruf der Oppositionsführer gefolgt sind, um am 2. und 3. November in Tbilissi zu demonstrieren, mit 25.000. Die Veranstalter sprechen hingegen von mehr als 100.000 Demonstranten, Beobachter von 50.000 Personen. Wie auch immer – diese Versammlung ist die größte Demonstration seit der Rosenrevolution, die Michail Saakaschwili und die derzeitige Regierung an die Macht gebracht hat.

Aus diesem Tatbestand versuchte die Opposition die Berechtigung abzuleiten, die Regierung zur Annahme ihrer Forderungen zu zwingen. Die medienwirksam inszenierte Vorbereitung der Demonstrationen – der Fernsehsender Imedi überträgt sie rund um die Uhr – tat ein Übriges dazu, aus ihnen ein spektakuläres Ereignis zu machen, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatten.

Am Wochenende schienen die Demonstrationen etwas von ihrem anfänglichen Schwung verloren zu haben. Beobachtern zufolge gewannen die Proteste wieder an Zulauf durch die im Fernsehen übertragene Intervention von Okruaschwili, dem langjährigen Weggefährten Saakaschwilis, der zunächst verhaftet, dann gegen Kaution und öffentliches Geständnis wieder freigelassen wurde. Am Dienstag nachmittag sprachen die Organisatoren davon, vor dem georgischen Parlament eine „Zeltstadt“ aufzubauen. Am nächsten Morgen lösten Spezialeinheiten die Versammlung auf, die sich jedoch andernorts wieder formierte.

Die Haltung der Regierung, die sich zu den Demonstrationen bis dahin distanziert verhalten hatte, verhärtete sich spürbar nach dem Fernsehauftritt von Saakaschwili. Einerseits verharmloste der Präsident die gegen ihn gerichteten Angriffe, indem er das Versammlungsrecht in einer Demokratie würdigte, andererseits jedoch brandmarkte er die „politischen Technologien“ der Oppositionsparteien, die er als „Lügenfabrik“ bezeichnete. Besonders scharf fielen die Verbalattacken gegen den Oligarchen Badri Patarkazischwili aus, der einen Teil der Bewegung finanziert und den Sender Imedi besitzt, den die Opposition wiederum als ihr Sprachrohr nutzt. In Folge wurden zwischen Regierung und Opposition gegenseitige Beleidigungen ausgetauscht, die schnell ins Tendenziöse verfielen, inklusive Nazismusvorwürfen mit anti-semitischen und anti-armenischen Untertönen.

Nach der Auflösung der Versammlung vor dem Parlament erklärte die Regierung, dass einige Oppositionsmitglieder an staatsfeindlichen Aktionen beteiligt waren. Aus dem Innenministerium drang die Äußerung, dass die Opposition mit dem russischen Geheimdienst zusammenarbeite. Am 7. November erreichte die verschärfte Rhetorik eine neue Stufe. Auch wenn einige Persönlichkeiten wie der Patriarch der Orthodoxen Kirche zur Besonnenheit mahnten, scheint eine Deeskalation nur schwer möglich, nachdem die Drohungen seitens der Regierung immer konkreter werden.

Die vier Forderungen der Opposition

Die Anführer der Demonstration, die seit dem 2. November vor dem Parlament zum Mikrofon greifen, haben vier Hauptforderungen. Die erste ist, die Parlamentswahlen, die durch Verfassungsänderungen für Ende 2008 vorgesehen waren, auf das Frühjahr vorzuziehen. Der Präsident, der über das Recht verfügt, das genaue Datum festzusetzen, möchte die Parlamentswahlen zum gleichen Zeitpunkt wie die Präsidentschaftswahlen abhalten, wodurch die Sitzungsperiode des Parlamentes verlängert würde. Diese ursprüngliche Entscheidung hat Saakaschwili in seiner Erklärung vom 4. November bestätigt.

Die zweite Forderung betrifft die Unparteilichkeit der zentralen Wahlkommission. Eine solche Forderung diente auch schon der Rosenrevolution als Angriffsspitze. Die Opposition ist der Auffassung, dass sich die Neutralitätsbedingungen nicht verbessert haben, da der Sekretär der Kommission, Lewan Tarchnischwili, über enge Kontakte zur Macht verfüge, obwohl er parteipolitisch neutral sein muss. Die offensichtliche Manipulation der letzten Kommunalwahlen dient der Opposition als Hauptargument für die Forderung, Vertreter aller Parteien in die Kommission aufzunehmen.

An dritter Stelle fordern die Demonstranten eine Reform des Mehrheitswahlsystems. Während in der jetzigen Gesetzgebung vorgesehen ist, dass diejenige Partei, die im jeweiligen Wahlkreis die Mehrheit der Stimmen erhält, ihre Vertreter ins Parlament schickt, soll es nach dem Willen der Opposition in Zukunft möglich sein, Individuen in direkter Wahl als Abgeordnete zu wählen. Durch das Proporzwahlsystem könne verhindert werden, dass diejenige Partei, die am besten aufgestellt ist – zur Zeit ist dies die Regierungspartei Nationale Bewegung – eine erdrückende Mehrheit im Parlament bekomme.

Die vierte Forderung der Opposition ist die Freilassung aller Personen, die als politische Gefangene angesehen werden. Dies bezieht sich vor allem auf den Oppositionsführer Irakli Batiaschwili, der nach dem Urteil des Gerichtshofs von Tbilissi dem swanischen Rebellen Emsar Kwiziani „intellektuelle Hilfe“ geleistet hätte. Am Dienstag, den 6. November, wiederholten die Demonstranten, dass sie erst nach einer Freilassung Batiaschwilis an die Ernsthaftigkeit eines Dialogs mit der Regierung glauben würden.

Die radikalsten Oppositionsführer forderten am Sonntag, den 4. November, den Rücktritt Saakaschwilis, der sich weiterhin zu keinen Zugeständnissen bereit findet. Der einzige Dialog mit der Regierung, mit der Parlamentspräsidentin Nino Burdschanadse, blieb ohne Folgen. Eine deutliche politische Attacke der Opposition zielt auf die einflussreichen ehemaligen Mitglieder der NGO „Liberty Institute“, an der Spitze Innenminister Wano Merabischwili und der Abgeordneten Giga Bokeria. Nach Ansicht der Opposition hätten sie alle Macht im Umfeld des Präsidenten an sich gerissen und würden ihn nun als Geisel halten. Seit mehr als einem Jahr wird der Machtklan, der aus dem Liberty Institute hervorgegangen ist, von der Opposition als treibende Kraft einer wachsenden Machtkonzentration angesehen.

Ein Oppositionskonglomerat

Wie lange wird das Bündnis der Oppositionsführer halten, die sich vor dem Parlament versammelt haben und durch die gemeinsamen Forderungen vereint sind? Diese Frage stellt sich insbesondere deshalb, weil die durch ihre Forderungen geeinten Gruppierungen äußerst heterogen sind. Sie sind aus den unterschiedlichsten Verhältnissen der georgischen Politiklandschaft hervorgegangen und haben sich für die Kundgebung unter dem Namen „Nationalrat einer Vereinten Bewegung“ versammelt. Dazu gehören: Die republikanische Mitte-Rechts Partei von Dawid Usupaschwili; die konservative Partei von Swiad Dsidsiguri; die extrem Rechtspartei „Freiheit“ von Konstantin Gamsachurdia; die extreme linke, populistische Arbeiterpartei von Schalwa Natelaschwili; die unabhängige Partei von Salome Surabischwili „Georgiens Weg“; die Partei der Flüchtlinge aus Abchasien von Paata Dawitaia „Von uns aus“; das Nationalforum von Kacha Schartawa; die Bewegung für ein geeintes Georgien, die neue militaristische Partei des ehemaligen Verteidigungsministers Irakli Okruaschwili; und die ebenfalls militaristische „Georgische Truppe“, von Dschondi Bagaturia.

Alles in allem sind hier alle politischen Tendenzen vertreten, die nicht an der Macht sind, von den ganz neuen Parteien ehemaliger Weggefährten Saakaschwilis bis zu alten swiadistischen Bewegungen, von den Post-Kommunisten über die gemäßigten bis zur äußersten Rechten. Diese Opposition ist durch den Protest gegen die aktuelle Regierung geeint. Sie ist auch strategisch. Aber reicht die Tatsache, in der Opposition zu sein, aus, um einen Block zu bilden, der bis zu den nächsten Wahlen hält? Der Eklektizismus der Bewegung zeugt von ihrer Legitimierung für das Volk, aber auch von ihrer politischen Schwäche.

Hinzu kommt die Unterstützung des Millionärs und Medienmoguls Badri Patarkazischwili, der im Oktober offiziell in die Politik eingestiegen ist, und den die Regierung mit Nachdruck nennt, um die Bewegung zu diskreditieren. Er bietet der Protestbewegung das Medienunternehmen Imedia als Plattform. Experten prognostizieren der Bewegung, die eine reine Front gegen die Regierung ist, kaum ein Bestehen über die mit Hilfe der Bevölkerung durchgeführten Proteste hinaus, noch nicht einmal eine mögliche „Große Koalition“ für die Wahlen 2008.

Wenn aber der Status quo andauert und der Ton von Seiten der Regierung noch schärfer wird, könnte Georgien in einer politischen Krise versinken und die Bewegung einen Wahlblock bilden. War die Bewegung der Rosenrevolution, die Michail Saakaschwili an die Macht brachte, nicht genauso heterogen? Und ist die Ausschaltung der anderen Koalitionspartner nach dem Erringen der Macht nicht der Hauptvorwurf der Opposition? Aber zunächst muss eine gewalttätige Auseinandersetzung, wie sie sich am 7. November ankündigte, vermieden werden.

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