Von Nicolas LANDRU in Tbilissi, übersetzt von Monika RADEK und Werner WÜTHRICH
© Nicolas Landru (Eglise catholique Saint Pierre et Paul, Tbilissi)
Bis zur Rosenrevolution war die internationale Aufmerksamkeit auf die Ausschreitungen der radikalen Fraktionen der orthodoxen Kirche gegenüber religiösen, insbesondere christlichen Minderheiten gerichtet. Die neue Regierung hat im Rahmen größerer Aktionen gegen die Korruption auch in diesem Bereich spektakuläre Maßnahmen ergriffen. Dazu zählt die im März 2004 erfolgte Verhaftung des aus dem Amt entlassenen Priesters Bassili Mkalawischwili, des charismatischen Anführers der Attacken gegen religiöse Minderheiten. In der öffentlichen Debatte wird dieser Zeitpunkt als das Ende der „Verfolgungen“ bezeichnet. Dieser Vorstellung liegt zwar eine faktische Verbesserung der Lage zu Grunde, verschleiert allerdings den anhaltenden Aktivismus orthodoxer Fundamentalisten sowie die missliche Situation der georgischen Minderheiten. Die Ereignisse anlässlich der Veröffentlichung des Buches Wahrheit und Gerechtigkeit – die Kirche von Ivlita lassen erkennen, dass die Probleme, mit denen die religiösen Minderheiten seit nunmehr 20 Jahren zu kämpfen haben, weiterhin aktuell sind.
Ende der 1980er Jahre äußerte sich die georgische Volksfront zu den Werten eines unabhängigen Georgien. Die Aktivisten der Unabhängigkeitsbewegung definierten die georgische Identität über die Orthodoxie, die im Goldenen Zeitalter des 12. Jahrhunderts die Religion des Königshauses war und nun zum zentralen Prinzip der Wiedergeburt der Nation wurde. Obwohl die georgische Bevölkerung im Lauf der Zeit unterschiedlichen Konfessionen angehörte und das georgische Territorium auch andere ethnisch-religiöse Gruppen beherbergt, wurde die Orthodoxie – der 1989 gerade zwei Drittel der Bevölkerung angehörten – zur conditio sine qua non der nationalen Zugehörigkeit. Im Zuge dieser religiösen Wiedergeburt, die sich nach 70 Jahren staatlichen Atheismus vollzogen hat, wurden die anderen Religionen zunehmend als bedrohlich wahrgenommen. Der erste Präsident des unabhängigen Georgiens, Swiad Gamsachurdia, fragte vor der Moschee von Batumi, Hauptstadt der Autonomen Republik Adscharien, die größtenteils von georgischen Muslimen bewohnt ist: „Seid ihr Georgier oder nicht?.“
Im Bürgerkrieg wurden die ethnischen und religiösen Minderheiten zur Hauptzielscheibe nationalistischer Organisationen. Seit 1989 wurden die Anhänger Krishnas von der paramilitärischen Gruppe der Mchedrioni („Ritter“) verfolgt. Insbesondere die „nichttraditionellen“ christlichen Kirchen, die der nationale Kanon nicht als auf georgischem Gebiet historisch verwurzelt anerkennt und als potentielle Konkurrenz zum orthodoxen Glauben wahrnimmt, werden in dieser Zeit zum Opfer von Schikanen. Auch unter Schewardnadse und der vorherrschenden gesellschaftlichen Lähmung, der Korruption der Ordnungshüter sowie der Gerichte blieben diesen Gruppen wenige Möglichkeiten, sich zu wehren.
Die Organisationen der radikalen Orthodoxie wurden in den 1990er Jahren gegründet. Ihre Mission lautete, die „Häretiker“ – die Sekten, den Protestantismus, aber auch den Katholizismus – auszurotten. Extremistische Bruderschaften wurden ins Leben gerufen. Organisationen wie Mdsleweli oder Dschwari nahmen Versammlungen, Gebäude, Einzelpersonen oder religiöse Symbole ins Visier; Autodafés im Namen des Glaubens mehren sich. Die Zeugen Jehovas, die seit 50 Jahren im Land leben, werden genauso zu Zielscheiben von Attacken wie die Baptisten und die Sieben-Tags-Adventisten. Um das Jahr 2000 erreichen die Attacken des Priesters Bassili ihren Höhepunkt. Die „Rosenrevolution“ sollte der Straflosigkeit dieser anhaltenden Aggressionen jedoch ein Ende setzen.
Die Gewaltakte seit „Vater Bassili“
Die in den Medien sehr hochgespielte Verhaftung des Kirchenvaters Bassili hat den Fundamentalismus – entgegen der Propaganda der Regierung – allerdings nicht besiegt. Sicherlich, die Grundlagen für einen Rechtsstaat sind vorhanden, und Gewalttäter müssen seitdem auch mehr Achtung vor dem Gesetz an den Tag legen. Dass die letzteren sich nicht mehr direkt an den Ausschreitungen beteiligen und die Zeugen Jehovas verhaften, stellt jedoch bereits einen Fortschritt an sich dar. Auch die Gerichte sind nicht mehr abgestumpft bzw. sind es weniger offen. Laut Regierungssprecher Beka Mindiaschwili hat es bis zur Verhaftung von Pater Bassili um die 800 Ausschreitungen gegen die Zeugen Jehovas gegeben. Seitdem wurden 30 registriert. Dennoch haben die Maßnahmen, die Anfang 2004 initiiert wurden, die Probleme kaum an der Wurzel angepackt.
Eine Handvoll extremistischer Priester ist weiterhin sehr aktiv: Metropolit Kalistrat von Kutaissi schimpft gegen die Katholiken, die historisch in der Provinz Imeretien verwurzelt sind. Pater David Iskadse von der Dighomi-Kirche in Tbilissi lästert entweder über die Pfingstbewegung oder versucht die katholischen Assyrer in orthodoxe Gläubige zu „bekehren“. Kürzlich bezeichnete er Luther als „Affen“. Beka Mindiaschwili zählt uns die im Jahr 2006 registrierten Aggressionen gegen Personen und Gebäude sowie die Beleidigungen, die sich gegen religiöse Gruppierungen richten, auf: zwar erreichen sie nicht das Ausmaß und die Schwere der Jahre vor 2004, sie stellen jedoch gleichwohl eine Konstante des georgischen Alltags dar, die von den Medien oft vernachlässigt wird.
Zwar hat der Regierungswechsel die rechtliche Seite gestärkt, die Förderung der orthodoxen Kirche durch die Regierung, die seit 2003 praktiziert wird, geht jedoch Hand in Hand mit einer zweiten religiösen Wiederbelebung. Paradoxerweise geht mit der Verbesserung der politischen Lage der religiösen Minderheiten eine zunehmende Prekarisierung ihrer sozialen Lage einher.
Druck seitens der Gesellschaft
Der orthodoxe Katholikos Ilia II. hat nie zur Gewalt aufgerufen. Die gewalttätigen Aktionen sind das Werk von Randgruppen, doch einige Beobachter meinen, dass sie durch das Klima der Intoleranz getragen werden, das in der georgischen Gesellschaft herrscht. Während für viele Politiker die Antwort in der Stärkung des Rechtsstaats liegt, sieht der Menschenrechtsaktivist Emil Adelchanow das Problem tiefer liegend: „Man müsste eine allgemeine Erziehung der Gesellschaft im Sinne der Aufklärung durchführen. Unwissenheit ist die Basis von Intoleranz.“
Die Entstellung der religiösen Geschichte schafft die Bedingungen für Feindseligkeit gegenüber anderen Religionen. Die Massenmedien spielen in dieser Hinsicht oft eine negative Rolle, indem sie eine pro-orthodoxe Haltung einnehmen. Der Fernsehsender Imedi zum Beispiel berücksichtigt nur die Orthodoxie. Wenn auch die anderen Religionen nicht negativ dargestellt werden, werden sie aber oft wie die ethnischen Minderheiten von den georgischen Medien ignoriert.
Außerdem zeigt die gewalttätige Intervention orthodoxer Gruppen in Fragen der Gesellschaft, dass sie sich als Hüter der nationalen Moral sehen. So haben zum Beispiel Fundamentalisten Anfang 2006 das Kino Rustaweli angegriffen, weil dort der Film „Da Vinci Code“ gezeigt wurde. Der Kampf gegen die anderen Religionen erfolgt im gleichen Stil.
Die Statusfrage
Die Minderheitsreligionen haben in den vergangenen 20 Jahren viele Anhänger verloren. Da viele Nichtgeorgier ihren Namen georgisierten, sind viele Georgier mit nichtorthodoxem Ursprung konvertiert, aus Sicherheitsgründen oder um nicht verfemt zu werden. Heute ist dieses Phänomen in Adscharien offenkundig, das 2004 in den Schoß von Tbilissi zurückkehrte: im Juli 2006 fand die dritte Massenbekehrung in Kobuleti statt, wo 300 Muslime den orthodoxen Glauben angenommen haben.
Seit 2002 gibt ein Konkordat der orthodoxen Kirche einen außergewöhnlichen Status, während keine andere Religion einen rechtlichen Status erhalten hat. Die vertraglich gewährten Privilegien sind zahlreich: der Klerus wird vom Wehrdienst freigestellt, die Grundlagen der orthodoxen Religion werden in der Schule gelehrt, die Diplome von orthodoxen Universitäten offiziell anerkannt, zwölf orthodoxe Festtage gelten als öffentliche Feiertage usw.
Weil sie an Boden verloren haben und von den Behörden diskriminiert werden, stellen die anderen religiösen Gruppen unterschiedliche Forderungen. Einige protestantische oder muslimische Organisationen haben den Weg gewählt, sich als NRO registrieren zu lassen. Unter anderem fordern die Katholiken und die Armenische Apostolische Kirche den Status als juristische Personen mit demselben Rechtsanspruch wie die orthodoxe Kirche: vergeblich.
Streit der Kirchen
Diese beiden Gemeinschaften haben ein weiteres Problem gemeinsam: jenes der katholischen oder armenischen Kirchengebäude vor der Sowjetepoche, die während der Unabhängigkeit von orthodoxen Priestern übernommen wurden. Andere Kirchen gehören dem Staat, der es aber ablehnt, sie zurückzuerstatten. Die Streitsache betrifft je sechs Kirchen der beiden Gemeinschaften. Da die Öffentlichkeit auf dieses Problem empfindlich reagiert, weil sie darin eine Gefahr für die orthodoxe Nation sieht, werden die Politiker davon abgehalten, auf die Forderungen der Minderheiten einzugehen.
Die Angelegenheit um die Kirche von Ivlita gehört in diesen Zusammenhang. Es handelt sich um eine Kirche in Mes’chetien, die vor der Sowjetepoche katholisch war und in einem mehrheitlich katholischen Dorf liegt. Sie wurde kürzlich von einem orthodoxen Priester besetzt, der dort die Gräber französischer Missionare und andere katholische Symbole zerstörte. Der Theologe Nugsar Papuaschwili und der katholische Priester Gabriele Bragantini haben ein Buch mit dem Titel Wahrheit und Gerechtigkeit – die Kirche von Ivlita veröffentlicht, in dem sie den „Diebstahl eines Kulturguts“ anprangern.
Bei der Vorstellung des Buches am 25. Oktober und 27. November 2006 drangen Mitglieder der Gruppen „Union orthodoxer Eltern“ und „Gesellschaft des Heiligen David des Erbauers“, angeführt durch den Priester David Isakadse, in den Saal ein. Sie beschimpften die Autoren und weitere Personen und versuchten, sie physisch zu attackieren. „Ich kenne diese Leute gut,“ erklärt Pater Bragantini, „was geschah, begegnet mir tagtäglich,“ indem er auf einen Stapel von Publikationen zeigt, die die „katholische Irrlehre“ anprangern und zum Hass gegen sie aufrufen.
Obwohl die Gewaltausschreitungen in Georgien durch die Einführung einer minimalen Herrschaft des Gesetzes geringer geworden sind, zeugt dieser Zwischenfall von einem Klima, das für die Minderheitsreligionen wenig günstig ist. Die Bedrohung durch die orthodoxen Fundamentalisten lässt ihnen wenig öffentlichen Raum. Trotz ihrer Zahl und ihres Gewichts treten sie öffentlich wenig in Erscheinung und werden im politischen Gespräch und in Schulbüchern weitgehend ignoriert. „Die derzeitige Lage ist nicht dramatisch, man ermordet keine Angehörigen von Minderheitsgruppen auf der Straße,“ schließt Emil Adelchanow. „Aber alle Grundlagen sind vorhanden, dass sich die Situation jederzeit verschlechtern kann.“
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