mercredi 28 mai 2008

Dschawachetien :

Ist die Isolation Dschawachetiens ein Symptom für die Probleme des Nationalstaates Georgien?
Artikel erschienen in caucaz.com am 26/03/2006
Von Nicolas LANDRU in TbilissiUbersetzt von Fiona GUTSCH und Monika RADEK

© Nicolas Landru, Eine Strasse in Achakalaki


Das bergige und isolierte Dschawachetien ist zu mehr als 92% von Armeniern bewohnt. Für die georgische Geschichtsschreibung ist diese Region im Südosten des Landes vor allem eine Wiege des nationalen Christentums. Die georgische Regierung ist gegenüber den lokalen armenischen Organisationen, die im September einen Autonomiestatus gefordert hatten, hart geblieben. Offenbaren die jüngsten Spannungen vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Isolation und dem Streit der armenischen und der georgischen Kirche um das religiöse Erbe die Schwierigkeiten Georgiens, einen georgischen Nationalstaat zu schaffen?
Befragt zur Haltung der georgischen Diözese der Apostolischen Kirche Armeniens zu den Spannungen, antwortet Lewon Isachanian, Assistent der Diözesenleitung, dass „niemand weiß, welche Art Land das heutige Georgien ist. Laut Artikel 2 der georgischen Verfassung ist die Territorialordnung des georgischen Staates nicht festgelegt.“ Ist die fehlende Territorialordnung Georgiens der Grund für die Spannungen in der Region?

Dschawachetien ist aus Überschneidungen georgischer, armenischer und türkischer Herrschaftsbereiche entstanden. Es gehörte zum Kernbestand des großen georgischen Königreichs im 12. Jahrhundert und stand seit dem Ende des Mittelalters unter türkischer Herrschaft. Später war die Region vorwiegend von türkischen oder georgischen Muslimen bewohnt – ihr Ursprung ist nach wie vor umstritten. Die russische Eroberung brachte große Veränderungen: Die muslimische Bevölkerung wurde gegen christliche Armenier des Osmanischen Reiches ausgetauscht. Der armenische Charakter der Region wurde zwischen 1915 und 1921 durch die Flüchtlinge des Völkermords an den Armeniern in der Türkei noch verstärkt.

Die Isolierung der Region ergab sich als Folge der Expansion des Russischen Reiches auf Kosten des Osmanischen Reiches. Damit einhergehend wurde Dschawachetien militärisch befestigt und der Zugang streng kontrolliert. Die UdSSR verstärkte diesen Prozess noch und machte aus der Grenzregion zur NATO ein regelrechtes no man’s land. Der Zugang war verboten und die Bevölkerung vom Rest Georgiens abgeschnitten. Die seit der Stalinisierung betriebene Nationalitätenpolitik der UdSSR, die in kürzester Zeit die Republiken schwächte, band die Region stärker an Eriwan als an Tbilissi.

Die noch aus früheren Zeiten stammende russische Militärbasis Achalkalaki gehört zu den Stützpunkten, auf die sich die Beschwerden der georgischen Nationalbewegung gegen das Imperium konzentriert haben. Heute ist sie ein Symbol für die Unabhängigkeit, was der geplante Abzug der Truppen im Jahre 2007 noch verstärken wird. Für die armenische Bevölkerung allerdings, die den Völkermord an den Armeniern noch gut in Erinnerung hat, bedeutet diese einzige wirtschaftliche Quelle auch einen Schutz vor der Türkei. Sie befürchtet, dass Ankara über die NATO in der Region Fuß fassen könnte.

Fehlendes Interesse der Zentralmacht

„In der postsowjetischen Zeit von Gamsachurdia und Schewardnadse hat niemand ernsthaft an die Integration der Region in den georgischen Staat gedacht,“ erklärt Lewon Isachanian. „Wir haben normale Straßen, sie nicht,“ meint er, um die unterschiedlichen Probleme der Armenier in Tbilissi und der Armenier in Dschawachetien zu verdeutlichen.

Unter Gamsachurdia bildete sich eine ethnisch geprägte Konstruktion der Nation heraus. Durch die Kriege in Südossetien und Abchasien überlastet, überließ Tbilissi die Region ab 1991 sich selbst, fürchtete aber gleichzeitig separatistische Bestrebungen. Ein Konzept ethnischer Minderheiten, demzufolge diese als „Gäste“ des georgischen „Gastgebers“ galten, erlaubte es den dschawachetischen Armeniern nicht, ihrer georgischen Staatsangehörigkeit eine Dimension von Identität zu geben. So verwaltete die armenische regionale und nationalistische Bewegung Dschawachk die Region eigenständig.

Das unter Schewardnadse entstandene Klientelsystem erlaubte es anschließend, die Region durch lokale Clans zu regieren, ohne eine regionale Integrationspolitik auszuarbeiten. Die 1994 erfolgte Bildung der Verwaltungseinheit Samzche-Dschawachetien kehrte die demographischen Verhältnisse zugunsten der Georgier um, was die politischen Organisationen Dschawachetiens als Versuch einer „Georgisierung“ werteten.

Eine politisch entfremdete Region

Lewon Isachanian verweist auf die rechtliche Stellung der Diözese der Apostolischen Kirche Armeniens. „Nur die staatlichen Strukturen können die Form der territorialen Ordnung und den Status der unterschiedlichen Regionen innerhalb eines geeinten Georgien bestimmen,“ meint er. Mit Blick auf das Beispiel der europäischen Demokratien fügt er hinzu: „Wenn Georgien ein demokratisches Land sein will, in dem sich alle Bürger gleichberechtigt und geschützt fühlen, dann muss es über seine definitive Form nachdenken“.

Dieses gesetzliche Vakuum sowie der gegenwärtige Status quo bedingen ein drastisches Defizit politischer Legitimität in Dschawachetien. Die Bewegung Geeintes Dschawachetien, eine Vereinigung lokaler politischer Kräfte, ist der Meinung, dass die regionalen Abgeordneten die Interessen der Bevölkerung nicht vertreten.

Die georgischen Behörden hingegen sprechen den lokalen politischen Organisationen, wie beispielsweise Virk, jegliche Legitimität ab, da sie nicht gewählt sind. Da Georgien die regionalen politischen Parteien nicht anerkennt, war es laut Virk nicht möglich, sich registrieren zu lassen. Andere Stimmen wiederum behaupten, dass Virk sich nicht registrieren lassen wollte, um sich den Status einer Protestpartei zu erhalten.

Geeintes Dschawachetien besteht vornehmlich aus einer aufsteigenden Kraft, der JEM (Kultur- und Sportvereinigung der Jugend Dschawachetiens), die bald von sich reden machen wird. So ließen ihre Aktivisten am 11. März ihre Muskeln spielen und riegelten die georgische Kirche, die Universität und das Gericht von Achalkalaki ab, um gegen die Ermordung eines Armeniers in Tsalka im benachbarten Kwemo-Kartli zu protestieren.

Die lokale Regierung des Landkreises Achalkalaki besteht aus einem gewählten Kreisrat (Sakrebulo), der im Vergleich zum Landrat (Gamgebeli), dem Vertreter des georgischen Präsidenten vor Ort, de facto nur wenig Macht hat und nur über die geringe Summe von 850.000 Lari für das Jahresbudget verfügt. Eine Summe, die kaum in der Lage sein wird, effiziente Reformen auf lokaler Ebene durchzuführen.

Die nationalen Parteien sind ihrerseits in der Region lediglich im Vorfeld von Wahlen präsent, wodurch sich auch die offensichtliche Popularität von Virk und Geeintes Dschawachetien bei der Bevölkerung erklären lässt. Die Partei Igor Giorgadses, eines Gegners des aktuellen Regimes, hat ihr Büro in Achalkalaki.

„Die Vertreter der Bevölkerung Dschawachetiens sind die Abgeordneten, die in den Parlamentswahlen gewählt wurden,“ insistiert Lewon Isachanian. Er erwähnt auch die bestehenden gesetzlichen Vorbedingungen für die Erlangung aller Rechte und die Durchsetzung des eigenen Status.

Das Forum der armenischen Vereinigungen Dschawachetiens hat bis heute nicht die nötigen gesetzlichen Mittel für die Durchsetzung seiner Forderungen. Dennoch bleibt der Eindruck eines tief sitzenden Unbehagens Dschawachetiens im Herzen des georgischen Staates, das dennoch fast vollständig von Tbilissi abgeschnitten ist: durch die Verkehrsverbindungen, die Sprache, die Medien und die ethnokulturelle Identität. Das Legitimitätsproblem steht für eine politische Entfremdung einer Region, die nicht über die nötige legale politische Kraft verfügt, um ihren Bewohnern eine ausreichende Identifikationsmöglichkeit zu geben. Die lokalen politischen Organisationen hätten jedoch die Mittel, das kommende Jahr zu einem heißen Jahr zu machen, sollten sie versuchen, die Schließung des russischen Stützpunktes Ende 2007 zu verhindern.

Neue Initiativen in Tbilissi?
„Für die Entwicklung Dschawachetiens müssen wir alles tun,“ erklärt Giorgi Kutsischwili, Direktor des Internationalen Zentrums für Konfliktlösung in Tbilissi, der gegenwärtig ein Entwicklungshilfeprogramm für den Anbau von Kartoffeln startet. „Die georgischen Politiker müssen endlich die Bedeutung der Erschließung Dschawachetiens begreifen,“ fügt er hinzu. Weitere NGOs und internationale Organisationen haben ebenfalls das Ziel, die Entwicklung der Region zu fördern.

Die Idee, Integrationsprogramme aufzustellen, scheint auch bis ins Zentrum der Macht durchgedrungen zu sein. „Die Regierung wird im Rahmen des Millenium Challenge Program noch in diesem Jahr neue Straßen in Dschawachetien bauen lassen. Etwa 100.000 Dollar sind dafür vorgesehen. Ich denke, dass diese Regierung die Integration der Armenier Dschawachetiens in den gemeinsamen politischen Raum Georgiens ernster nimmt als die vorherige,“ hofft Lewon Isachanian. Er zitiert auch ein Programm zum Georgischunterricht in Dschawachetien, das unter der Ägide der OSZE angelaufen ist. „Die Regierung denkt endlich auch an den Georgischunterricht, und das ist ein sehr gutes Zeichen. Wir Armenier in Georgien brauchen Raum, um atmen zu können, und Georgisch, um uns ausdrücken zu können,“ sagt er.

Isachanian würde es für einen diplomatischen Zug der Regierung halten, würde sie Armenisch als regionale Sprache Dschawachetiens anerkennnen und die Forderungen der Bevölkerung – sofern sie mehrheitlich gewünscht werden – ernsthaft prüfen.

Der Weg vom Sichbewusstwerden bis zur Umsetzung wirksamer Reformen ist zwar lang, bleibt jedoch nicht die einzige Hürde: die Abneigung der lokalen Bevölkerung gegen eine politische oder sprachliche Integration aus Angst vor Assimilation und Verlust der eigenen Identität ist groß. Es bleibt fraglich, ob diese Probleme gelöst werden können, solange man sich nicht für ein Modell für die Konstruktion eines Nationalstaates in Georgien entscheidet.

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