jeudi 29 mai 2008

Georgien: die Region Tqibuli angesichts der Landflucht

Artikel erschienen am 20/12/2006
Von Nicolas LANDRU in Tqibuli, übersetzt von Fiona GUTSCH und Monika RADEK


© Nicolas Landru, "Am Bahnhof von Tqibuli"

Die Straße, die das Flachland mit der Stadt Tqibuli verbindet, führt zu einem hohen Plateau, das das von den ersten Vorbergen des Hohen Kaukasus eingeschlossene imeretische Flachland dominiert. Hier sind die Bauarbeiten in vollem Gange. Die Bauarbeiter legen eine neue Asphaltschicht. Einige Wochen vor den Kommunalwahlen vom 5. Oktober 2006 macht die georgische Regierung den Eindruck, als wollte sie die Lethargie, die sich vor fünfzehn Jahren über die Region Okriba in Westgeorgien ausgebreitet hat, wieder aufheben. Die Arbeiten wurden auf der Strecke Kutaissi-Tqibuli angefangen. Wie im gesamten Land werden auch hier Kindergärten und Sportanlagen gebaut bzw. modernisiert. Für Mai nächsten Jahres wird die Wiedereröffnung des seit dem ökonomischen Zusammenbruch des Landes geschlossenen Bahnhofs angekündigt. Trotz dieser Aufpolierungsbemühungen in der Wahlperiode sind wenige hier optimistisch. „Saakaschwili tut alles für Tbilissi und Batumi, doch an uns denkt er nicht besonders oft,“ beschwert sich Kacha - wie der Großteil der Bewohner Tqibulis ein ehemaliger Bergbauarbeiter.

Die Region Okriba ist in Georgien ein besonderer Fall. Die bis ins 20. Jahrhundert hinein wenig bevölkerte Brückenregion zwischen der Ebene von Kutaissi und den Bergen von Ratscha wurde durch die Entdeckung der Kohlelager zur Zeit des russischen Reiches tief erschüttert. Infolge der schnellen Erschließung der Rohstofflager wurden hier, und ab 1892 auch im Dorf von Tqibuli, Bergwerke errichtet. Tqibuli wurde daraufhin zu einem Zentrum des Bergbaus, das die bis dahin vornehmlich landwirtschaftlich tätigen Dörfer aus der Umgebung zusammenführte.

1939 erhielt Tqibuli den Status einer Stadt. Über seine vier Kohlebergwerke hinaus wurde die Stadt zu einem Zentrum der Förderung von Granit und Sand, vor allem aber des Teeanbaus, der in den kollektivierten Landwirtschaftsbetrieben der Umgebung angebaut wurde. Angeblich war der Tee aus Tqibuli der Lieblingstee Stalins, was für die Region eine große Ehre war.

Trotz seiner 39.600 Bewohner (1986) avancierte Tqibuli nie zu einem echten urbanen Zentrum. Die umgebenden Dörfer waren sehr mit den Aktivitäten der Stadt verbunden. Die Dorfbewohner gaben ihre landwirtschaftliche Tätigkeit auf. Die Bergleute wiederum zogen in die Dörfer zum Wohnen. Viele der Dorfbewohner beteiligten sich auch an der Handarbeit des Teepflückens.

So wurde der Bezirk von Tqibuli, eine richtige ländliche Industriezone, ab den 1950er Jahren zu einer der wohlhabendsten Regionen der Sowjetunion. Laut der Bewohner von Tqibuli reichte es, einen Sommer lang auf den Teeplantagen zu arbeiten, um sich von dem Gehalt ein Haus bauen zu können. Die Bergarbeiter hatten mit die höchsten Einkommen im gesamten Land, was natürlich nicht unbedeutende Migrationsbewegungen aus anderen Regionen, insbesondere Russland und Bulgarien, zur Folge hatte. Der Wohlstand förderte auch den Tourismus in den umliegenden Dörfern, in denen Sanatorien, Kantinen und Pensionen gebaut wurden.

Die Überreste des Überflusses

Wenn man jedoch heute nach Tqibuli reist, so findet man ein tristes Bild vor. Heruntergekommene Fabriken, sich selbst überlassene Bergwerke, verlasseneund zerfallene Häuser, Kühe und Schweine, die in der industriellen Brache weiden: Die entlang der Straße gebaute Stadt besteht aus nichts anderem mehr als einer Reihe von Betonblöcken, die zum Teil auch verlassen sind.

Mit dem Niedergang der Sowjetunion sind alle staatlichen Aktivitäten in Georgien zugrunde gegangen. Die Katastrophe hat man hier jedoch stärker gespürt. Der Rest der Republik war bemerkenswert wenig industrialisiert. „In Wani, in Südimeretien, hatten die Leute nie etwas gehabt. So haben sie den Unterschied kaum gespürt,“ behauptet Tamuna. „Hier haben sie alles verloren.“

Einige Monate nach dem brutalen Zusammenbruch der wirtschaftlichen Aktivitäten im Jahre 1991 wurde der Wohlstand vom Desaster verdrängt. Die Bewohner selbst plünderten die Lagerhäuser und nahmen die Anlagen auseinander. Sie bauten die Fenster der Fabriken in ihre eigenen Wohnungen ein, verwendeten die hölzernen Stützen der Bergwerke als Heizmaterial und verkauften das Eisen der Eisenbahnschienen.

Als die Bergwerke geschlossen wurden, setzten einige ihre Arbeit in den Gruben illegal fort, um die Kohle zum Heizen oder zum Verkauf zu verwenden, was natürlich mit einer hohen Lebensgefahr verbunden war. Da sich die Sicherheitsbedingungen von Jahr zu Jahr verschlechterten, stieg auch die Zahl der Unfälle. Die Teeplantagen wurden ebenfalls verlassen. Ohne landwirtschaftliche Maschinen und Transportmöglichkeiten waren sie zu weit von den Wohnbereichen der ehemaligen Plantagenarbeiter gelegen, als dass sich diese dort hätten hinbegeben können.

Mittellose Dörfer

Wenn man aus den Ebenen Imeretiens oder den Bergen von Ratscha kommt, fällt einem das Fehlen landwirtschaftlicher Tätigkeit in der Region von Tqibuli ins Auge. Die Felder sind überwuchert mit Unkraut, die Büsche der ehemaligen Teeplantagen von Tieren abgefressen. In den Gärten der Dörfer finden sich selten Obstbäume, Kartoffeln oder andere Nutzpflanzen. Zwar begründen die Einwohner das mit den schlechten Böden, in den Nachbarregionen scheinen diese aber auch nicht viel besser zu sein.

In der Sowjetzeit waren die Bewohner der etwa ein Dutzend Dörfer um Tqibuli ausschließlich in der Industrie der Stadt oder dem intensiven Teeanbau beschäftigt, so dass sie nun keinen Bezug zu ihrer ländlichen Umgebung haben. Mit dem Zusammenbruch des Systems waren sie – anders als viele ihrer Landsleute, die die Feldarbeit gewohnt sind – nicht in der Lage, sich einer landwirtschaftlichen Mischkultur zuzuwenden. Als Landproletarier sind sie genauso mittellos wie die Stadtbewohner.

Die früheren Plantagenarbeiter konnten teilweise weiterhin Tee für den Privatgebrauch anbauen, aber sie haben nicht die Ausrüstung, um eine kommerzielle Bewirtschaftung aufrechtzuerhalten. Zusätzlich haben sie einige kleine Maisfelder angelegt.

Außerdem gibt es im ganzen Gebiet im Unterschied zu den Agrarzonen keine Bewässerungsanlagen wie im Bezirk Wani. Der beeindruckende Wasserspeicher von Tqibuli, an dem man auf der Straße von der Ebene nach Okriba vorbeifährt, wurde für ein Wasserkraftwerk gebaut. Um ihn für die Bewässerung nutzbar zu machen, wären gewaltige Baumaßnahmen nötig. Im letzten Sommer wurden keine großen Anstrengungen unternommen, und so ist der ganze Mais vertrocknet. Es gibt in der Gegend ein Gerücht, dass der millionenschwere imeretische Mäzen Iwanischwili den Wasserspeicher zum Wohle der Bevölkerung vom Staat abkaufen wollte, die Regierung aber abgelehnt habe…

Unvermeidliche Landflucht

Die Emigration hier ist offensichtlich. In der Hauptstraße von Satsire sind nachts nur zwei Häuser erleuchtet. „Viele meiner Freunde sind das Jahr über in Russland,“ sagt der junge Giorgi. „Ich studiere in Kutaissi, aber später möchte ich hier bleiben. Ich bin hier zuhause.“

Laut offiziellen Statistiken ist ein Drittel der Bevölkerung des Gebiets abgewandert. Örtliche Beobachter vermuten, dass es noch viel mehr sind. Im Sommer füllen sich die Dörfer und die Stadt wieder, und im September gehen Männer und Frauen woanders Arbeit suchen.

Dauerhaft leerstehende Häuser lassen die Abreise von ganzen Familien erahnen, die, soweit das Familienoberhaupt Arbeit im Baugewerbe oder als Glückshändler findet, vor allem in die Vororte von Tbilissi gehen. Wenn es ihnen sprachlich möglich ist, lassen sie ihre Familien aber im Land zurück, um im Ausland, meistens in Russland, ein Auskommen zu finden.

Die Migrationsrouten verlaufen entsprechend den Bekanntschaftsnetzwerken. Wenn jemand sich erfolgreich in einem Land eingerichtet hat, folgen ihm seine Verwandten oder Nachbarn. „Eine meiner Freundinnen hat es in Italien geschafft. Wenn sich hier nichts ändert, werde ich ihr folgen,“ erzählt Nino. Für die Frauen scheint es einfacher zu sein, Wege nach Italien und Griechenland zu finden. Die Mehrzahl der Männer hingegen, deren Russischniveau durch den Militärdienst gefördert wurde, hat einen leichteren Zugang zu Russland.

Diejenigen, die geblieben sind, finden hier und da in den Handelsnetzen von Kutaissi eine Arbeit. Da die lokale Wirtschaftsaktivität quasi bei Null liegt, pendeln viele täglich oder wöchentlich innerhalb von Imeretien. Die im Vergleich zur Bevölkerung große Anzahl von Zigaretten- oder Getränkekiosks zeugt davon, dass der lokale Handel eine der wenigen Aktivitäten der Region ist.

Jede zweite Familie lebt von den Zahlungen eines emigrierten Familienmitglieds, was aber die Mehrzahl von ihnen nicht zur Feldarbeit anregt.

Einige wenige junge Leute bleiben aus eigenem Willen. Sie studieren in Kutaissi, auch wenn das Niveau sehr viel weniger verspricht als in Tbilissi, und hoffen, dass sie zur Entwicklung ihrer Heimat beitragen und dort wohnen können. Ihre Aussichten auf eine Arbeit vor Ort sind bisher allerdings sehr gering.

Zeichen für einen Wandel?

Die Entwicklung der allgemeinen Situation in Georgien ist allerdings geeignet, die Optionen für diese Sackgasse, in der die Region steckt, zu ändern. Die Verschlechterung der russisch-georgischen Beziehungen hat in erster Linie die Georgier in Russland getroffen. Die Vergeltungsmaßnahmen des Kremls aufgrund der Affäre um die russischen Spione haben zu einer Jagd auf georgische Immigranten geführt. Auch wenn die Wirkung vor allem psychologischer Art war – die Anzahl der ausgewiesenen Georgier war verschwindend klein verglichen mit der der in Russland lebenden Georgier – so war sie doch sehr stark, und gerade in einer Region, die praktisch von der Emigration lebt, spürt man sie noch viel stärker.

Im Gegenzug hat die wachsende Wirtschaftstätigkeit in Georgien nun auch Okriba erreicht. Kürzlich hat ein niederländisches Unternehmen den Granitsteinbruch gekauft, um die Steine Richtung Poti zu transportieren. Auch wenn bisher wenig Menschen tatsächlich dabei eingestellt wurden, so ist es doch ein gutes Zeichen für die Wiederbelebung der Region.

Vor zwei Jahren wurde eines der Kohlebergwerke von Tqibuli zugunsten von Sakinwesti privatisiert und wieder in Betrieb genommen. Aber es scheint, als ob die Bevölkerung lieber weiterhin vom Geld aus dem Ausland lebt als eine der gefährlichsten Arbeiten wieder aufzunehmen.

Da die kurz vor den Wahlen ergriffenen Initiativen weiter fortbestehen, scheint es, dass die Regierung Maßnahmen ergriffen hat, um die Region zu erschließen. Nach einem neuen Hilfsprogramm für Familien erhalten 60.000 Familien des Gebiets seit Mitte Oktober finanzielle Hilfe. In Tqibuli ist diese Hilfe eine der höchsten im ganzen Land. Zusätzlich zeigt der Wiederaufbau der Infrastruktur, der die Region öffnet, die Möglichkeit für neue Aktivitäten. In jedem Fall wird sich die Bevölkerung weniger verlassen von Tbilissi fühlen. Allein der Besuch von Premierminister Surab Nogaideli vor den Wahlen hat die Unzufriedenheiten zerstreut und der Regierungspartei Nationale Bewegung bei der Abstimmung eine überwältigende Mehrheit eingebracht.

Zwar ist die Region Tqibuli ein besonderer Fall aufgrund seiner wirtschaftlichen Vergangenheit, aber es gibt dort die gleichen Probleme wie in allen Regionen Georgiens. In Dschawachetien, wo eine große Anzahl von Armeniern lebt, ist die Situation noch dramatischer. Dort emigrieren regelmäßig 60-70 % der Bevölkerung.

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