Artikel erschienen in caucaz.com am 19/03/2007
Von Nicolas LANDRU in Manglissi und Tsalka, übersetzt von Monika RADEK und Nicolas LANDRU
© Nicolas Landru, Straße Tbilissi-Tsalka, in der Nähe von Manglissi
Das weniger als 100 km von Tbilissi entfernte kleine Städtchen Tsalka könnte ein Vorort der georgischen Hauptstadt sein. In der sowjetischen Ära diente es als einer der „Speicher“ der Metropole, der die Versorgung der Hauptstadt mit Milchprodukten und Kartoffeln sicherstellte. In der Bergregion hat der Zerfall der UdSSR jedoch unmittelbar zu einem Ruin der Produktionsstrukturen und einer extremen Verschlechterung der Straßen und Eisenbahnlinien geführt. Das heutige Kwemo-Kartli zählt zu den isoliertesten und am stärksten vernachlässigten Regionen Georgiens und zeugt von einer extremen Desintegration des georgischen Territoriums.
Hinter dem malerischen Dorf Zchneti, das keine 10 km von Tbilissi entfernt liegt, ist die Straße nach Tsalka von Hühnernestern übersät. Eine Teilstrecke wurde jüngst neu gebaut, doch wie so oft in Georgien, wurden die Instandhaltungsarbeiten vernachlässigt, so dass sie erneut zerfällt. Der Asphalt wird mit jedem Kilometer immer dünner, bis er hinter Manglissi, einem ehemaligen Sommerurlaubsgebiet der Tbilissier, nur noch zu erahnen ist. Dahinter wird es sehr abenteuerlich, wenn man sich ohne Geländerwagen auf der steilen Straße – Tsalka liegt auf 1.600 m über dem Meeresspiegel – fortbewegt.
Obwohl bereits in den letzten Jahren zahlreiche Projekte initiiert wurden, die allerdings nicht umgesetzt wurden, soll demnächst ein im Juli 2006 unterzeichnetes Komplettsanierungsprogramm, das von der Weltbank unterstützt wird, realisiert werden. In der Zwischenzeit müsste man, um Tsalka von Tbilissi aus zu erreichen, vom Osten her kommen, wo die Straße zwischen Tetri-Tskaro und Tsalka für den Bau der Pipeline Baku-Tbilissi-Ceyhan (BTC) von der Firma British Petroleum neu asphaltiert wurde. Doch auch dieser Weg verfällt zunehmend in seinen ursprünglichen Zustand. Selbstverständlich sind die Nebenstraßen der Region in einem noch erbärmlicheren Zustand. Einen erkennbaren Fortschritt im Bereich des Transportwesens machen zur Zeit nur die Eisenbahnlinien, die zunächst in Vergessenheit geraten zu sein schienen, im August 2006 jedoch wiedereröffnet wurden. Nachteile hier: die geringe Leistungsfähigkeit und Langsamkeit der Züge.
Zerfall und Leere einer Region
Tsira, 75 Jahre alt, lebt in einem Dorf nahe Manglissi, 7 km von der Straße entfernt. Einmal die Woche läuft sie den Weg zu Fuß, um an der Straße auf ein Auto zu warten, das sie nach Tbilissi mitnimmt. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind nahezu verschwunden. Nach Tbilissi fährt sie, um dort Tqemali-Sauce zu verkaufen und auf diesem Weg ihre schmale Rente zu verbessern. Zu Zeiten der UdSSR arbeitete sie in einer Fabrik in Zchneti und pendelte jeden Tag dorthin. Die Fahrt dauerte damals weniger als seine halbe Stunde; heute braucht man für denselben Weg zwei bis drei Mal länger. In diesem so nah an der Hauptstadt gelegenen Distrikt können die Menschen, die auf dem Markt von Tbilissi Lebensmittel verkaufen, dies nur wöchentlich während der Hauptsaison tun und das auch nur, wenn sie einen guten Wagen haben. „Anfang der 1990er Jahre konnten die Griechen nach Griechenland und die Armenier nach Erevan reisen“, erinnert sich Tsira, „doch wir Georgier aus der Region hatten keine andere Wahl als zu bleiben“.
Die Bergdistrikte von Kwemo-Kartli waren nämlich nicht nur von einer Auflösung der Infra- und Produktionsstrukturen betroffen; hinzu kam auch eine massive soziale Zersplitterung des Landes, wie sie woanders kaum zu finden war. Vor 1991 war der Umkreis von Tsalka mehrheitlich von Griechen und Armeniern, der Umkreis von Tetri-Tskaro von Georgiern und der von Dmanissi im Süden von Aserbaidschanern bewohnt. Die Dörfer unterschiedlicher Bewohnergruppen verkehrten miteinander, ohne dass die Kontakte zwischen den Gemeinden besonders eng waren. Auch gab es kaum eine ethnische Vermischung. Der ökonomische Zerfall sowie die Degradation der Straßen haben diesen Umstand noch verstärkt, so dass heutzutage jedes Dorf dazu tendiert, sehr isoliert und auf sich selbst gestellt zu leben.
Die Auswanderung hat die Sozialstruktur der Region stark erschüttert, insbesondere in Tsalka, wo die Situation am gravierendsten ist, wo der massive Weggang der Griechen nach 1991 zu einer Entvölkerung der meisten Dörfer geführt hat. Generell hatten auch die armenischen Gemeinden eine relativ starke Tendenz zur Auswanderung; die Aserbaidschaner ebenfalls, doch in einer weniger massiven Weise, zum Teil, weil sie weniger Zielregionen mit Perspektive zur Verfügung hatten. Selbst die Bevölkerungszahl des mehrheitlich georgischen Umkreises von Tetri-Tskaro hat sich stark verringert.
Die Zahlen sprechen für sich: vergleicht man die Volkszählungen von 1989 und 2002, so hat sich die Bevölkerungszahl des Umkreises von Tsalka fast, in Dmanissi gar mehr als halbiert. Auch wenn die offiziellen Statistiken oftmals nicht zuverlässig sind – es scheint, dass Zahlen je nach politischen Interessen mal höher, mal niedriger angesetzt werden – und die Migrationsströme eine exakte Zählung unmöglich machen, so scheint sich die Bevölkerungzahl von Kwemo-Kartli von gut 150.000 Einwohnern im Jahr 1989 auf knapp 80.000 reduziert zu haben.
Tsalka, eine instabile Region
Ein anderer demographischer Faktor verursachte Instabilität in der Region: die Einwanderung in aufeinander folgenden Wellen – Ende der 1980er Jahre, 1998, 2002 und 2004 – von georgischen Bevölkerungsgruppen vor allem in die entvölkerten Gebiete. Swanen und Adscharen aus Erdrutsch-Katastrophengebieten oder aus Risikozonen wurden dorthin umgesiedelt, besonders nach Tsalka, wo die Griechen leere Häuser hinterlassen hatten.
Es entspannen sich Kontroversen um die Motive der Regierung. Manche Vertreter von ethnischen Minderheiten sahen darin die Absicht, diese Region mit der geringsten Zahl an georgischen Einwohnern zu georgisieren. Die Regierung behauptete, dass Maßnahmen gegen die Entvölkerung der Region besonders dringend wären.
Jenseits der ethnisierenden Diskurse wird deutlich, dass ein Kampf zwischen alten und neuen Einwohnern um die Kontrolle von Ressourcen und wirtschaftlicher Tätigkeit in der Region von Tsalka entbrannte.
Die Abwesenheit einer Ordnung, die den Eingliederungsprozess der Neuankömmlinge charakterisierte, verursachte eine allgemeine Unklarheit in Besitzfragen. Manche zogen in leere Häuser, die noch Anderen gehörten. Der Mangel an Gesetzgebung und an Sicherheitskräften eröffnete vor allem seit 2004 einen Raum für Verbrechen und Gewalt.
Im März 2006 war der Mord eines Armeniers durch einen Swanen in Tsalka Grund für schwere Unruhen innerhalb der armenischen Gemeinde Georgiens. Kurz zuvor wurde ein griechisches Ehepaar von Adscharen ermordet, wonach eine Reihe von Racheakten zwischen alten und neuen Gemeinschaftsstrukturen folgte.
Abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit
Zu diesen sozialen und gesellschaftlichen Herausforderungen kommen gewaltige strukturelle Probleme. Diese drei Bergbezirke zählen zu den ärmsten in Georgien. In der Umgebung von Tsalka verfügen die wenigsten Dörfer über fließendes Wasser und Strom. Organisierte Kriminalität hat lange Zeit dazu geführt, dass die politischen Entwicklungen an dieser Region vorbeigegangen sind. Die Unkenntnis der georgischen Sprache unter den ethnischen Minderheiten verstärkt diese politische Isolierung. Auch wenn der Staat, erst unter dem ehemaligen Präsidenten Edward Schewardnadse, und dann infolge der „Rosenrevolution“, seine Herrschaft über die Region langsam wiederhergestellt hat, bleiben hier die Institutionen merklich weniger transparent als im Landesdurchschnitt.
Durch seine geographische Einteilung ist Kwemo-Kartli eine besonders künstliche, unausgeglichene Region, die nur schwer zu verwalten ist. Ein weiterer Nachteil ist die geringe öffentliche und mediale Aufmerksamkeit für diese Region. Als typisch arme und isolierte Region Georgiens wird hingegen oft Dschawachetien dargestellt. Dabei sind, was Isolierung und Armut betrifft, die Schwierigkeiten in der Region Tsalka noch größer.
Obwohl Griechenland Druck ausübt, damit Rehabilitationsprojekte in Tsalka durchgeführt werden, hat sich die griechische Minderheit sich zu stark verkleinert, um einen Erfolg dieser Bemühungen wahrscheinlich zu machen.
Einige armenische Organisationen sind über die Situation der lokalen Armenier besorgt, da die soziale Spannung sehr oft einen „ethnischen“ Aspekt annimmt. Doch hat bisher Dschawachetien ihre Aufmerksamkeit viel mehr auf sich gezogen.
Obwohl manche Entwicklungsprojekte, wie das Millenium Challenge Program, auch die Bergregionen von Kwemo-Kartli betreffen, wurden bisher keine Schritte geplant, die die Situation schnell ändern könnten. Der georgischen Regierung mangelt es noch an Vermögen oder an einer umfassenden Vision für die Entwicklung dieser Region.
„In Manglissi haben sie das Glück, dass Herr Beschuaschwili [der georgische Außenminister, Anm. d. Red.] von dort stammt“, beschwert sich Tsira. „Er macht dort gute Sachen. Aber in meinem Dorf bekommen wir gar nichts.“
samedi 31 mai 2008
Die isolierten Bergregionen von Kwemo-Kartli im Stillstand
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1 commentaire:
Es ist doch wirklich traurig, dass quasi die einzig brauchbare Straße von einem Konzern wie BP gebaut werden muss. Mit solchen und ähnlichen Aktionen helfen die Ölmultis sicherlich schon hin und wieder einigen Gegenden in der Welt, andererseits haben sie diese so natürlich auch in der Hand. Schade, dass ein einziges Gut wie das Öl, so viel Macht haben kann und so bedingungslos verwendet wird.
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